Sonntag, 4. Juli 2010

Veränderte Zeiten

Hassen Sie das auch, wenn die Post zu spät kommt? Was glauben Sie, wie mir das auf den Geist geht. Als mir vor dem Haus meines jungen Freundes klar wurde, dass etwas grundlegendes schief gelaufen war, musste ich zurück in den Postkanal: wissen Sie? Es gibt da drin Knoten, die können einem genau verraten, wo man gerade ist, was vorher kommt und was nachher. Genau diese Punkte brauchte ich, um herauszufinden, was hier so schief läuft.

Und? Nichts: einfach nur alles falsch. So, als würde ihnen einer sagen, die Picadilly Line fährt nicht über Picadilly. Kennen sie nicht? Dann eben: es sagt ihnen einer, es ist 12 Uhr - und deutet auf seine Uhr, die unzweifelhaft auf drei Uhr zeigt! So kam ich nicht weiter - also bin ich zurück zum Ausstieg bei meinem jungen Freund. War nur Minuten weg, kann eigentlich nichts daneben gehen. Aber ich war zu spät! Ein ganzes Jahr!

Auf dem Weg zu dem Plätzchen, wo ich Ihn zu ersten mal getroffen hatte, konnte ich ihn abfangen. Gott, war der groß geworden.

"Wann wurde der Otto-Motor erfunden?"
"Der was?"
"Otto-Motor... mein Gott: Benzin rin, in den Kolben zerstäuben, zünden: Bumm. Dann bewegt sich der Zylinder, die Achse, das Auto."
"Der Duvalier-Verbrennungsmotor."
"Der was?"
"Irgendwoher kenne ich sie."
"Natürlich kennst du mich. Vor einem Jahr etwa....."
Er schaute mich abschätzig an.
"Der Mantel...."
"Genau! Ich..."
"Ziehen Sie den eigentlich nie aus?"
Er nickte und ging weiter. Ich hinterher.
"Selten. Also vor einem Jahr...."
"Haben Sie mir ein Paket gebracht mit nem ollen Papier drin vom Westfälischen Frieden."
"Von der Nachrichtenübermittlung und dem Postdienst, die als Folge der Friedensverhandlungen eingesetzt wurden. Das einzig sinnvolle, das aus diesem Dreissigjährigen Krieg entstanden ist. Erinnerst du dich nicht? Vor zwei Jahren? Hier an der Bushaltestelle?"
Er blieb stehen.
"Was für eine Bushaltestelle?"
Ich schaute mich um. Zwischen den ärmlichen Häusern zog sich mehr schlecht als recht ein übel gepflastertes Ding durch die Landschaft, das Straße zu nennen eine Beleidigung für pharaonische Staubpisten gewesen wäre.
"Wie kommst du überhaupt zu Schule?"
"Durch Geburt und Gehorsam."
"Ich meine, heute morgen."
"Gar nicht."
"Aber vor zwei Jahren...."
"Vor zwei Jahren haben wir uns nicht getroffen. An den Mantel würde ich mich erinnern. Ausserdem war vor zwei Jahren noch mein Vater da - da musste ich nicht zwischen den Bauernpfaden rumlaufen."
"Wo ist denn dein Vater."
"Auf den königlichen Ölplattformen vor Louisianum."
"Was?"
"Nicht freiwillig. Und jetzt verzeihen Sie - ich muss mich beeilen."
Der Bursche legten einen Schritt zu, offenbar mit dem Ziel, mich abzuhängen. Ha! Ich hielt leicht schritt.
"Also: wann wurde dieser Duvalier-Motor erfunden."
"1776"
"Kurz vor der französischen Revolution."
"Wenn Sie hundert Jahre kurz nennen."
Das brachte mich zum Stillstand. Aber nicht den Burschen. Der zog einfach weiter. Flegel.
"Hey!"
Er blieb nicht stehen - würdigte mich aber immerhin einer Antwort.
"Ich muss mich beeilen. Ich darf nicht zu spät kommen."
Braver Junge. Ich eilte mich, aufzuholen, ohne ihn einzuholen.
"Du gehst doch zur Schule. Dann gib mir doch bitte einen kurzen Geschichtsunterricht. Sagen wir... die letzten 200 Jahre im Schnelldurchlauf."
"Seid mein Vater dem König auf den Ölfeldern dient, gehe ich nicht mehr zu Schule."
Mein Schweigen war wohl beredter als jede Frage.
"Ich diene den König in der königlichen Automobil-Manufaktur."
"Welchem König?"
"Louis dem 33."
Sein Blick: düster wie der eines Kellners, der eine Beschwerde erwartet. Aber ein Kichern konnte ich nicht unterdrücken.
"Sssch!"
Mein Blick: erstaunt wie der eines Gastes, dem man erzählt, dass Kaffee aus ist.
"Man könnte sie hören."
"Und?"
"Dann landen Sie auch auf den Ölfeldern des Königs. Oder schlimmeres."
"Hah! Die Ölfelder. Auf denen auch dein Vater.... dient."
Er nickt - und eilt weiter.
"Willst du ihn wiedersehen, deinen Vater?"
Gehaucht, gehetzt:
"Es wird geschehen wenn der König es will."
Wenn ich eine Hutschnur hätte, ware sie mir jetzt geplatzt.
"Papperlapapp! Wer fragt denn den König wegen so etwas? Fragt dieser Baum den König, ob er wachsen darf?"
Der Bursche starrte mich an.
Zugegeben: der Baum sah etwas mickrig aus. Jung und verkrüppelt, am Wachsen gehindert. Vielleicht hätte er fragen sollen....
"Das Wetter, also: das Klima.... es ist ziemlich heiss und trocken in letzter Zeit."
"Seit einigen Jahren. Darum nennen wir ihn..." er schaute sich tatsächlich um, der Bursche. Aber wir standen mittlerweile auf dem freien Feld. "...den Sonnenkönig."
"Und die Ölreserven gehen so langsam zur Neige."
"Die Ingenieure des Königs finden immer weitere, nahezu unerschöpfliche Quellen."
"Zum Beispiel vor Louisianum in vielen tausend Metern tiefe."
Er nickte, traurig, und ging weiter.
"Und dafür setzen sie Sklaven ein und... Gefangene."
Volltreffer. Aber er ging weiter.
"Mein Gott in was für einer Welt lebst du? Ich meine das wörtlich. Das kann doch nicht das Beste sein, dass euch einfällt. Womit, sag mir, glaubt ihr das verdient zu haben: einen König der euch unterdrückt, ausplündert und den Planeten ruiniert? Und dafür in einem prachtvollen Schloß lebt, von allem hässlichen abgeschottet, das er so über die Welt auskippt."
Der Bursche blieb stehen, drehte sich um:
"Er lebt in einem Schloß, dass in den Wolken schwebt."
"Versailles in the Sky, wie passend."
Langsamen Schrittes kam der Bursche zu mir zurück gelaufen.
"Die besten Weinlagen arbeiten nur für ihn - aber wenn der Jahrgang nicht den letzten übertrifft, schütten sie alles weg. Sein Steuersystem ist gerecht und dynamisch: es lässt jedem gerade so viel. dass er davon Leben kann. Für seine Freunde ist das mehr, für die anderen weniger. Und er ist barmherzig: für die Hungrigen lässt er seine Küchenabfälle herabregnen, wenn sein Schloß über uns fliegt und die Sonne verdunkelt."
"Er ist ein Arschloch."
"Auch nicht schlimmer als der letzte."
"Warum ertragt ihr ihn?"
"Weil er jeden, der auch nur den Mund aufmacht, in die Minen und die Öflelder schickt."
"Weil ihr es euch nicht anders vorstellen könnt. Was soll denn kommen, wenn der eine Louis weg ist, hm?"
...
"Ein neuer, besserer, gerechter König?"
"Kommen sie mir jetzt nicht mit dem Republik-Kram! Das sind Spinner."
"Ja! Gefährliche Spinner! Sehr sympatische Leute. Warum ist dein Vater auf den Ölfeldern?"
Er wollte mittels wegdrehen das Gespräch beenden - ein wunder Punkt, Ich hielt ihn am Arm fest.
"Warum?"
"Wegen seines Hobbys."
?
"Solarstrom. Er hat in seiner Freizeit Sachen gebaut, mit denen man Solarstrom produzieren kann."
"Ganz unabhängig von den Ölfeldern, die der König kontrolliert. Könnte jeder machen, und dann, lieber König? Ein gefährlicher Mann. Gefällt mir, dein Vater."
"Wenn er noch lebt."
"Ach.... natürlich lebt er noch. Wir sollten ihn besuchen gehen."
"Diener emfpangen keine Gäste."
"Komm, ich bin sicher, er freut sich."
In seinen Augen war jetzt etwas, dass sogar den Wind verstummen ließ.
"Seine letzten Worte zu mir waren: sei stark. Und geh nicht meinen Weg. Daran werde ich mich halten: ich muss nun Dienst leisten.".
Halt! .... Lässt mich einfach stehen! "Haalt!"
"Ich weiss, dass er das so nicht gemeint hat, Wenn du auch nur zur Hälfte sein Sohn bist... naja, genaugenommen bist du zur Hälfte sein Sohn und zur Hälfte deiner Mutter.... egal: er hat sicher nicht gemeint dass du deinen Kopf einziehst und brav Männchen machst vor dem König. Oder welche drittklassige, ungebildete, aufgeblasene Beleidigung für die menschliche Rasse er auch immer gerade vorschickt."
Ich hatte seine Aufmerksamkeit und das funkeln in seinen Augen sagte mir, dass ich Recht habe.
"Kuck nicht so, ich hab Erfahrungen mit Königen, Machthabern und derlei Geschmeiß.. die meisten sinds jedenfalls. Und ich sag dir: eine Weise wie man am besten nicht mit ihnen umgeht, ist, einfach seinen Dienst zu leisten. Sies mal so: das sind arme Kreaturen, Blind in einem lichtlosen Horrorzimmer, ohne die geringste Ahnung, wo das Geheul herkommt und die deswegen um sich schlagen. Gibt man denen noch dienstfertig eine Knüppel in die Hand: nein! Man zündet ihnen ein Licht an. Also, was sagst du?"
"Wozu?"
"Du meine Güte! So intelligent und manchmal so schwer von Begriff! Wir holen deinen Vater da raus und schauen uns diese Königsache mal genauer an! Schau dich um - dieser Planet hustet sich gerade in ein Fieber, mit dem er euch loszuwerden trachtet. Ich meine: mir solls egal sein. Aber schade wärs schon um die Menschheit. Also, wie wärs? oder hast du heute nachmittag noch was dringenderes vor?"
"Dieses Papier, dass sie mir gebracht haben.... Wo haben Sie das her?"
"Vom Fürsten von Thurn und Taxis persönlich. Hab ich doch gesagt."
"Es sieht so neu aus."
"Ist ja auch erst ein paar Stunden alt - und knappe 400 Jahre."
Pupillen, die sich zu Fragezeichen verformen.
"Gibst da unten einen Briefkasten?"
"Natürlich."
"Dann komm mit: ich will dir zeigen, wie wir deinen Vater rausholen - und vor allem: warum!"
....
"Liegt doch sowieso auf deinem Weg."
!
Der schweigend zum Briefkasten zurückgelegte Weg war von weiteren, stumm über uns schwebenden Fragezeichen geschwängert - aber gottseidank recht kurz.
So ein Briefkasten ist ein unscheinbares Ding. Aber ein mächtiges Portal für diejenigen, die bescheid wissen. Zu denen gehörte der junge Bursche allerdings nicht.
Postbox "Und jetzt?"
"Wie heißt du eigentlich, mein Junge?"
"Ich habe zuerst gefragt."
"Na gut. Ich lade dich ein auf eine Reise in diese große, bunte, wahnsinnige Welt - und wenn du hinterher immer noch sagst: und jetzt? dann kehren wir genau hierhin zurück: Ort und Zeit. Und du hast nichts verloren: keinen Meter und keine Sekunde. Deal?"
"Und wie soll das funktionieren?"
"Hiermit," Aus meiner Manteltasche holte ich, was aussah wie eine Briefumschlag mit einer Kabelverbindung, die nirgendwohin führt: "Mit meinem Interentaglement Postal Ordering Device."
...
"Meinem I-POD."
...
"Ja, er kann auch Musik spielen."
...
"Ihr habt keine Ipods?"
Schulterzucken.
"Apple?"
?
"Nicht die Frucht.... also gut: Du musst jetzt ganz genau aufpassen. Nimm meine Hand..."
Er nahm meine Hand. Mit der anderen öffnete ich den Briefkasten, hielt den Ipod-Umschlag an den Schlitz. Ich konnte schon den Sog spüren.
"...und schau mir ganz tief in die Augen...."
Als er das tat, als unsere Blicke sich verschränkten, dass man förmlich hörte, wie es "Klick" macht, warf ich den Brief ein. Spürte, wie es erst mich und dann den Burschen hinüberzog in den Postkanal, dessen Entdeckung zu dem Größten gehört, dass den Menschen jemals gelungen ist... Und ich hörte seinen Schrei der Überraschung. Fasst hätte er losgelassen - aber ich hatte ihn fest im Griff:
"Jetzt musst du mir aber antworten: WIe heißt du eigentlich?"
"Daaaaaaaaaaviiiiiii.............."